BEHÜTET
Im größten Nationalpark Ecuadors, dem Yasuní Nationalpark, konnte ich das Brutpflegeverhalten einer Wanze der Art Antiteuchus tripterus über zwei Wochen lang verfolgen. Das Gelege befand sich auf einem Ast, und das Weibchen beschützte es vor Feinden,wie man es auch von anderen Wanzenarten kennt. Zu meiner Überraschung stellte ich im Laufe der Zeit fest, dass diese Mutter nicht nur die Eier behütete, sondern auch die geschlüpften Jungen, zumindest, bis sie sich zum ersten Mal gehäutet hatten. Die mütterliche Fürsorge dient dazu, die Überlebenschancen des Nachwuchses zu erhöhen, da es in den Regenwäldern Ecuadors nicht nur zahlreiche Fressfeinde gibt, sondern auch Parasitoide, wie etwa Schlupfwespen. Es ist ein hochkomplexes Ökosystem, in dem unzählige Organismen miteinander verbunden sind.
Sony ILCE-7RM4, Laowa 2.8/25mm, Blitz mit Diffusor, ISO 320
von Sabine Riewenherm
Naturfotografie und Naturschutz sind – wie ich meine – perfekte Partner: Die Natur liefert eine unermesslich große Zahl von Motiven, aus denen die Fotograf*innen für ihr Werk schöpfen können. Die Naturfotografie in ihrer klassischen, von der GDT praktizierten Form, weckt Emotionen. Und gerade Emotionen sind für den Naturschutz wichtig, dafür, dass sich Menschen für Arten, Lebensräume und deren Beziehungen untereinander interessieren und für den Naturschutz sensibilisiert werden.
Emotionen ganz unterschiedlicher Art ruft sicherlich das Siegerbild des diesjährigen Wettbewerbs Europäischer Naturfotograf des Jahres hervor. Denn Javier Aznar González de Rueda aus Spanien hat das Brutpflegeverhalten einer Wanze der Art Antiteuchus tripterus fotografisch festgehalten und seiner Aufnahme den bezeichnenden Titel Behütet gegeben. Ob ein Motiv wie die nun ausgezeichnete Wanze früher, vielleicht vor einem Jahrzehnt, schon Anklang gefunden hätte? Wir wissen es nicht.
Was wir aber durchaus feststellen: Die Insekten, zu denen die Gruppe der Wanzen gehört, rücken immer mehr in unser Blickfeld und unser Bewusstsein. Sei es, weil die rot-schwarze Feuerwanze oder die Gemeine Stinkwanze über unsere Terrasse krabbeln oder auf dem Teich nebenan die schlanken Wasserläufer über die Oberfläche huschen. Dass wir diese Tiere verstärkt wahrnehmen, ist gut und wichtig. Denn Wanzen sind – ähnlich wie andere Insektengruppen – besonders artenreich in einer extensiv genutzten und strukturreichen Kulturlandschaft vertreten. In Deutschland leben übrigens mehr als 900 Wanzenarten, in Mitteleuropa sind es mehr als 1.100 Arten und weltweit mehr als 42.000. Und sie alle und vor allem ihre Lebensräume gilt es zu schützen, eine große Aufgabe für uns alle! Weil Wanzen teils eng mit bestimmten Lebensraumtypen und -faktoren verbunden sind, gibt ihr Vorkommen oder Fehlen differenziert Auskunft über den Zustand dieser Lebensräume. Wanzen leiden – wie andere Artengruppen auch – ganz besonders unter intensiver Bewirtschaftung, dem Eintrag von Dünge- oder Pflanzenschutzmittel in Gewässer oder der Flächenversiegelung gerade im Siedlungsbereich. Daher passt es auch gut zum Siegerbild, dass Insekten mit dem Insektenschutzgesetz in Deutschland inzwischen besser „behütet“ werden als früher.
Die immer knapper werdenden Lebensräume sind es auch, die die Gewinner des Fritz Pölking Preises und des Fritz Pölking Jugendpreises vereinen: So dokumentiert der Niederländer Jasper Doest in seiner Geschichte Ein fragiles Refugium für Waldelefanten die in diesem Fall unheilvolle Nähe zwischen Mensch und Natur, die fasziniert und zugleich betroffen macht. Das Sonnenblumen-Paradies von Mateusz Piesiak (Polen) hingegen wirkt zumindest auf den ersten Blick wie eine heile Welt. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf die kleinen Details und die große Vielfalt einer landwirtschaftlichen Fläche, wie sie entstehen kann, wenn sie – wie in diesem Fall – ungeplant nicht mehr bewirtschaftet wird. Eindrucksvolle Aufnahmen aus ganz unterschiedlichen Regionen unserer Erde!
Bemerkenswert sind aber nicht nur die preisgekrönten Bilder. Mindestens genauso bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich am diesjährigen Wettbewerb mehr als 920 Fotografinnen und Fotografen mit knapp 18.000 Bildern beteiligt haben – ein Beleg dafür, welch‘ großen Stellenwert Naturfotografie mittlerweile hat, aber auch dafür, dass die Leitlinien der GDT Anerkennung finden, die nicht nur eine zeitgemäße und kreative Auseinandersetzung mit Naturfotografie fordern und auch fördern, sondern zugleich für die Verletzlichkeit von und den Respekt für die Schöpfung sensibilisieren und zu einem sorgsamen Umgang aufrufen. Und genau das ist etwas, was uns verbindet – das Bundesamt für Naturschutz, die GDT und all die Fotografinnen und Fotografen, die sich an diesem Wettbewerb beteiligt haben.
Sabine Riewenherm
Präsidentin des Bundesamts für Naturschutz
Schirmherrin des Wettbewerbs
von Mark Littlejohn (für die Jury)
Der Gewinner des Wettbewerbs Europäischer Naturfotograf des Jahres 2023 ist Javier Aznar González de Rueda mit seinem wunderbaren Bild Behütet. Es zeigt die Liebe einer Wanzenmutter zu ihrem frisch geschlüpften Nachwuchs, den sie vor Parasiten und anderen Bedrohungen beschützt. Javier hatte diese spannende Situation zwei Wochen lang beobachtet. Eine solche Hingabe ist in jedem Bereich beeindruckend und zeugt von echter Leidenschaft für ein Thema. Aber können wir uns eigentlich vorstellen, dass Insekten Mutterliebe zeigen können, dass sie dazu überhaupt in der Lage sind? Und zeigen wir, die menschliche Rasse, ihnen unsere Liebe? Wir setzen uns für den Schutz von Delfinen, Elefanten und anderen großen, charismatischen Tieren ein, doch alles Leben hat es verdient, wertgeschätzt, geschützt und geliebt zu werden. Und genau darum geht es bei diesem schönen Bild von Javier: Um die Liebe – in all ihren Formen und Ausprägungen.
Aus fotografischer Sicht ist es hilfreich, dass das Bild wunderbar lebendig ist. Es zieht die Blicke auf sich und hält unsere Aufmerksamkeit wach. Und mit seiner großartigen Hintergrundgeschichte konnte es für uns keinen anderen Sieger geben. Doch die Wahl eines Gesamtsiegers ist niemals eine leichte Aufgabe. Und sie hat auch ein Dilemma für die Jury aufgezeigt: Ist eine Hintergrundgeschichte wichtig? Oder sollte ein Bild allein von seiner Ästhetik leben? Man sagt, ein Bild sage mehr als tausend Worte. Aber dies ist der Wettbewerb Europäischer Naturfotograf des Jahres.
Tiere, Pflanzen, die gesamte natürliche Welt wird bedroht durch das von Habgier geprägte Handeln des Menschen. Als Jury waren wir der Auffassung, dass eine Geschichte hinter dem Bild wichtig ist. Und die Popularität einer solchen Fotografie kann dazu beitragen, die Aufmerksamkeit auf drängende Probleme zu lenken. Eine große Zahl von Insektenarten ist im Rückgang begriffen. Jüngste Studien haben gezeigt, dass ihre Aussterberate achtmal so hoch ist wie die von Säugetieren, Vögeln und Reptilien. Doch würde unsere Welt, wie wir sie kennen, ohne Insekten nicht existieren. Der berühmte Biologe E. O. Wilson sagte: „Wenn die gesamte Menschheit verschwinden würde, würde sich die Welt in den Zustand des Gleichgewichts zurückentwickeln, der vor zehntausend Jahren herrschte. Würden die Insekten verschwinden, würde die Umwelt im Chaos versinken.“ Mit diesen Gedanken im Hinterkopf war es ein leichtes, am Ende eines langen, harten Prozesses aus knapp 18.000 Einsendungen einen Gewinner zu ermitteln.
Solche Entscheidungen aus fotografischer Sicht zu treffen, war für mich eine neue Erfahrung. Meine Fotografie war immer instinktiv und individuell, ich musste dabei nur einer Person gefallen. Meine Emotionen haben das Sagen und mein Kopf nur selten Mitspracherecht. Das brachte mich in ein Dilemma, als Sandra Bartocha mich bat, in der Jury mitzuwirken. Ich würde ein Teil eines sorgfältig ausgewählten Teams sein. Mein Kopf müsste ebenso viel mitreden wie mein Herz. Ich würde ein Bild betrachten und es im Vergleich zu mehreren tausend anderen sorgfältig und überlegt beurteilen müssen. Und das zusammen mit vier anderen Juroren. Ich hatte die Vorstellung, dass sich das Prozedere in eine Szene verwandeln würde, die an Twelve Angry Men erinnert, mit mir in der Rolle von Henry Fonda. Als wir uns alle zum ersten Mal in der schönen Stadt Potsdam trafen, hatten wir bereits knapp 18.000 Bilder bequem von zu Hause aus online bewertet.
Doch dann saß ich neben Juroren aus den Niederlanden, Deutschland, Großbritannien und Schweden. Unterschiedliche Kulturen, unterschiedliche Hintergründe. Wir mussten drei Tage lang zusammenarbeiten, um die besten 126 Bilder zu finden. Und uns schließlich auf einen Gesamtsieger einigen. Konnten sich fünf so unterschiedliche Personen wie Britta, Anders, Marijn, Karsten und ich auf einen Gewinner einigen? Aus einer ebenso vielfältigen Auswahl von Bildern? Wären wir überhaupt in der Lage, uns auf irgendetwas zu einigen? Doch ich habe festgestellt, dass Naturfotografen in gewissem Sinne ähnliche Charaktere sind. Einfühlungsvermögen ist der Schlüssel, um ein guter Naturfotograf zu werden. Man muss eine gewisse Emotion für sein Motiv empfinden. Und wenn man Einfühlungsvermögen hat, ist es einfacher, einen diplomatischen Kompromiss mit anderen Menschen zu finden. Es gab keine Konfrontationen, keinen Streit. Uns verband eine gemeinsame Liebe zu unserer Welt und zu den wunderbaren Motiven, die sie uns zu bieten hat. Das einzige Ärgernis war, dass wir gelegentlich einen persönlichen Favoriten aus den Top Ten einer Kategorie gehen lassen mussten. Oder den Favoriten von jemand anderem. Wir sind eben auch nur Menschen, und die Natur des Menschen kann wankelmütig sein. Lieblinge ändern sich, und sie ändern sich schnell. Manchmal mache ich ein Bild, das ich sofort liebe. Doch am nächsten Tag sehe ich nur noch Mängel und frage mich, was die Gefühle vom Vortag ausgelöst hat. Ich fand, dass dieses Gefühl auch auf einige der Bilder zutraf, die wir bei der Jurierung bewerteten. Einige durchliefen einen Schaukelprozess, bei dem sie am Morgen noch zu den Favoriten zählten, am Nachmittag jedoch verworfen wurden. Bei anderen Bildern ging es in die entgegengesetzte Richtung. Aber es gab immer einen diplomatisch-demokratischen Prozess, durch den Bilder aufgenommen oder ausgeschlossen wurden. Kein Teil des Verfahrens war übereilt. Jeder von uns hat in der einen oder anderen Phase ausführlich darlegen können, warum er ein bestimmtes Bild für würdig hielt, in die nächste Runde zu kommen.
Wir haben Arbeiten der Liebe beurteilt, Bilder, in die das Herzblut der Fotografinnen und Fotografen eingeflossen ist. Man kann so einen Prozess nicht beschleunigen, nur weil man ungeduldig oder hungrig ist. Einmal haben wir erst um 21 Uhr abends eine Kaffeepause eingelegt. Keiner hatte bemerkt, wie die Zeit vergangen war, so vertieft waren wir in unsere Aufgabe. Jede neue Kategorie brachte neue Herausforderungen mit sich, die wir bewältigen mussten. Und dennoch hat sich meine Meinung über Javiers Siegerbild während des gesamten Prozesses nicht geändert. Sie hat sich bis heute nicht geändert. Selbst jetzt, mehrere Wochen später, habe ich das Bild noch vor meinem geistigen Auge. Und wenn Bilder wie dieses mit ihren aussagekräftigen Erzählungen mehr und mehr Aufmerksamkeit auf die Notlage der Natur lenken können, dann kann das nur etwas Positives sein. Die Fotografie hat die Macht, eine Kraft für das Gute zu sein im Kampf für die Erde und alle ihre Bewohner, einschließlich der Insekten, die vielleicht die wichtigsten von allen sind.
Mark Littlejohn
im Namen der Jury
Mit Stolz präsentiert die GDT in jedem Jahr anlässlich der Eröffnung der gleichnamigen Ausstellung beim Internationalen Naturfotofestival in Lünen einen hochwertigen Katalog. In diesem Jahr zeigt er auf 156 Seiten die prämierten Aufnahmen von 75 Fotografen aus über 42 europäischen Ländern. Die fantastischen Bilder sollen nicht nur Beispiel sein für die außergewöhnliche Qualität europäischer Naturfotografie; sie sollen darüber hinaus für den Erhalt von Arten und Lebensräumen werben und dazu anregen, Natur neu zu entdecken und sich respektvoll mit allen Sinnen auf sie einzulassen.
Preis: 22,00 € zzgl. Versand
Zu bestellen beim Tecklenborg-Verlag.