Die Jury, bestehend aus Alessandra Meniconzi (CH), Sandra Bartocha (DE), Gisela Pölking (DE), Felix Heintzenberg (DE/SE), Magnus Reneflot (NO), Patrick Brakowski (DE) und Markus Varesvuo (FI), traf sich live in Potsdam, nachdem die Jurierung in den vergangenen beiden Jahren aufgrund der Corona-Pandemie virtuell stattfinden musste.
Patrick Brakowsky (für die Jury):
In diesem Jahr kehrt der Fritz Pölking Preis zurück in den sprichwörtlichen Heimathafen. Nachdem er in den vergangenen zwei Jahren an die mexikanisch-/US-amerikanische Grenze (2020) sowie zu den Heuschrecken in Uganda (2021) führte, ist nun der nächtliche Greifswalder Hafen Schauplatz der Gewinnerserie. Größer könnte der Kontrast des Settings kaum sein. Auch inhaltlich, so scheint es, entbehrt diese Geschichte einer Komplexität oder gesellschaftspolitischen Relevanz, wie es bei den zuvor prämierten Serien von Alejandro Prieto und Jasper Doest der Fall war. Nicht einmal die porträtierte Tierart vermag aufhorchen zu lassen, denn Graureiher gibt es schließlich überall. Die Bilder, die wir hier sehen, könnten, so formulierte es eines der Jury-Mitglieder, von jedem gemacht werden. Stimmt das?
Seit der Preis in den Wettbewerb Europäischer Naturfotograf des Jahres integriert wurde, sind die Geschichten, die er hervorbringt, internationaler, relevanter, ja politischer geworden. Das ließ sich während unserer aktuellen Jurysitzung erneut beobachten. Wieder sahen wir die eher klassischen Naturreportagen aus entlegenen Weltregionen oder aus den unbekannten Tiefen der Meere; es gab fotografische Expeditionen in den Bereich der Forschung und mutige kreative Experimente. Diese erfreuliche Vielfalt machte eine Vergleichbarkeit schwierig, denn viele der Einreichungen mussten nach unterschiedlichen Kriterien bewertet werden. Wir konzentrierten uns daher verstärkt auf die Stimmigkeit der einzelnen Serien und ließen die Bilder in ihrer Abfolge immer wieder auf uns wirken. Und stellten schließlich fest, dass uns Jan Leßmanns Serie „Lockdown Heron“ am meisten begeisterte.
Ja, es sind Bilder, die im Prinzip jeder machen kann, doch es ist wie so oft in der Kunst: Die einfachen Dinge sind am schwierigsten umzusetzen. Das Besondere im Normalen erkennbar zu machen, erfordert ein hohes Maß an Kreativität. All das veranschaulicht Jan Leßmann mit dieser Serie. Das Motto „Aus der Not eine Tugend machen“ haben wir alle in den vergangenen zweieinhalb Jahren häufig aus dem Umfeld von Fotografinnen und Fotografen gehört. Wer nicht reisen konnte, fand seine Motive vor der Haustür. Viele von uns lernten die heimische Natur umso mehr zu schätzen. Der Graureiher im Hafen von Greifswald ist da keine Ausnahme, doch Jan Leßmann geht noch einen Schritt weiter: Er nimmt die Betrachter mit in die für uns Menschen dunkle, trostlose Zeit des Corona-Lockdowns im Winter 2021. Dort, wo zuvor das Leben tobte, herrscht nun Stille, statt feiernder Menschen in und vor den Kneipen der Stadt gibt es nur noch das schwache Licht der Straßenlaternen, welches in jenen Tagen eigentlich keine Funktion mehr hat: Es ist ja sowieso niemand dort.
Mit Ausnahme des Graureihers, der übrigens ein alter Bekannter im Greifswalder Nachtleben ist und sich daher seinerseits bestimmt nicht wundert, dass er Nacht für Nacht von einem jungen Mann mit der Kamera verfolgt wird. Dieser fotografiert ihn inmitten der Stadtkulisse, wie er unter einer Brücke auf Beute lauert oder nach erfolgreicher Jagd als stimmungsvolles Silhouetten-Close-up. Er entdeckt ihn in einer fast surrealen Schneeszenerie aus Schwarz und Weiß mit dem Blitzgerät, zeigt sein filigranes Gefieder in der Nahaufnahme und erzeugt optische Verwirrungen bei der Darstellung von Reiher und Fischen: Was ist echt, was ist Spiegelung? Es sind der Facettenreichtum und der Mut zu neuen Perspektiven, die diese kleine Geschichte über einen alltäglichen Vogel so eindringlich machen und die zeigen, dass es in der Tierfotografie oft mehr auf Einfühlungsvermögen und Kreativität ankommt als auf Exotik und Geschwindigkeit.
Der Fritz Pölking Jugendpreis erlebt in diesem Jahr eine doppelte Premiere: Erstmals wird bei den unter 27-Jährigen eine Reportage ausgezeichnet und erstmals stammt diese von zwei Fotografen, die gemeinsam an einem Projekt gearbeitet haben. Beides ist bemerkenswert! Wie sehr es sich lohnt, ein bestimmtes Thema im Team fotografisch zu durchleuchten, hat sich in den vergangenen Jahren immer häufiger gezeigt, auch im Umfeld der GDT. Es ermöglicht einen breiteren Blick auf ein Projekt – sowohl inhaltlich als auch ästhetisch –, und das gilt im Besonderen für eine komplexe Geschichte wie die über Bären in Rumänien, die uns die jungen Niederländer David Hup und Michiel van Noppen erzählen. In bester Storytelling-Manier gelingt es ihnen, mit nur wenigen Bildern unterschiedliche Sachverhalte darzustellen, die Tiere und Menschen in dieser Region in Europa gleichermaßen betreffen. Da ist etwa der Zusammenhang zwischen der Abholzung des Lebensraums der Bären und die daraus resultierende Notwendigkeit, die nahegelegenen Dörfer nach Nahrung abzusuchen, was wiederum zwangsläufig zu Konflikten mit der Bevölkerung führt. Auf der anderen Seite ist da aber auch die große Verehrung für diese Tiere, die im traditionellen Ursul-Tanz mit aufwendig gestalteten Bärenkostümen zum Ausdruck kommt. Wer sich die Bilder der beiden Fotografen anschaut, versteht die widersprüchliche Geschichte, die dahintersteckt, ohne dabei unbedingt erläuternde Texte lesen zu müssen.
Diese Form der Kommunikation mit den Mitteln der Fotografie ist gerade heute, in Zeiten der Reizüberflutung durch Bilder, von großer Relevanz. Und es stimmt ungemein optimistisch, dass sich die Generation junger Fotografinnen und Fotografen traut, jenseits des gelungenen Einzelbildes tiefer in eine Materie einzutauchen – egal, ob es sich um die Koexistenz von Bären und Menschen handelt oder um einen einsamen Reiher im Stadthafen.