Kommentar der Jury
von Angel Fitor
Eine Ikone unserer Zeit
Vor der Kulisse eines Waldes setzt ein verkleideter Affe seine Maske ab.
Wenn die Maske fällt, stürzt plötzlich die Mauer aus Arroganz ein, die wir über Jahrhunderte hinweg zwischen der Natur und uns errichtet haben. Noch nie zuvor hat ein Tierporträt uns selbst so gut gespiegelt: Hinter unserer menschlichen Maske steckt ein nackter Affe.
In der gemütlichen Vertrautheit unseres Zuhauses sitzend, und gezwungen, einander während der durch Covid-19 auferlegten Videokonferenz noch aufmerksamer zuzuhören, haben wir, die Juroren des Wettbewerbs Europäischer Naturfotograf des Jahres 2020, unsere Diskussionen auf eine Ebene des Austauschs gehoben, die unter anderen Umständen heute kaum noch zu finden ist. Ohne die Signale von Gesten und Körpersprache berücksichtigen zu können, hingen wir buchstäblich an jedem Wort, das von den eingerahmten „sprechenden Köpfen“ der anderen Juroren kam! Glücklicherweise waren die meisten von uns bereits sehr erfahren in der Beurteilung von Wettbewerbseinsendungen, aber dieses schicksalhafte Jahr hatte uns unter außergewöhnlichen Umständen zusammengeführt, und ich wage zu behaupten, dass diese unvorhergesehene Konstellation in Kombination mit einem breiten Spektrum außergewöhnlicher Bilder diesen Auswahlprozess zur Jurierung unseres Lebens machte.
Im Verlauf der Vorjurierung bestätigte sich, was die meisten von uns bereits wissen, aber nur widerstrebend akzeptieren möchten: die beunruhigende Zunahme an Fotografen, deren wichtigste Triebfeder es zu sein scheint, um jeden Preis gewinnen zu wollen. Manipulation und Inszenierung, bis hin zur Schaffung völlig unnatürlicher Situationen, durchzogen die Kategorien, in denen es um leicht zu manipulierende Lebewesen geht – Insekten, Amphibien und Reptilien. Aber vor allem auch in der Kategorie Unterwasserwelt, der ich dieses Jahr die Ehre hatte, mit meinem Fachwissen zu dienen. Wir alle haben unser breites Wissen, unsere Erfahrung und unsere Intuition eingesetzt, um zu verhindern, dass solche Bilder weiterkamen.
Auch wenn diejenigen, die die Natur mit Hilfe der Fotografie für eigennützige Interessen nutzen, nicht die Mehrheit darstellen, ist der zunehmende Trend doch offensichtlich genug, um Naturfotografen auf der ganzen Welt in Alarmstimmung zu versetzen. Manipulation wirkt sich nicht nur in vielfältiger Weise auf das Wohlbefinden der Tiere aus – das Spektrum reicht hier von leichtem Unbehagen bis zum Tod – sondern sie erzeugt auch ein stetiges Anheben der visuellen Messlatte, was wiederum andere dazu veranlasst, durch noch stärkere Manipulationen erfolgreich sein zu wollen. Abweichend vom journalistischen Ansatz, der hier als die Darstellung von Natur, wie sie tatsächlich ist, definiert wird, erzeugt eine solche Manipulation eine zutiefst verzerrte Wahrnehmung von Natur bei einem breiten Publikum, das zumeist leider nicht über genügend Sachkenntnis oder Wissen verfügt, um die Wahrheit hinter der „neuen Realität“ solcher Bilder zu erkennen.
Letztlich zwingen die üblen Praktiken einiger weniger Fotografen die Umweltbehörden dazu, ihre Bedenken gegenüber der Gesamtheit der Naturfotografen zum Ausdruck zu bringen. Eine gründliche Überprüfung der Regeln und Verfahren in jedem Naturfotowettbewerb, die Schaffung eines internationalen unabhängigen Expertenkomitees im Dienste der Wettbewerbs-Organisatoren und die Erstellung so genannter „Schwarzer Listen“ – diese und andere Maßnahmen werden zurzeit in vielen Diskussionsforen besprochen. Keine dieser Maßnahmen wird jedoch Erfolg haben, wenn sich nicht jeder von uns eindeutig dazu verpflichtet, diese bedauerlichen und unethischen Verhaltensweisen aus unserer Gemeinschaft zu verbannen.
Unsere Arbeit als Juroren bot uns auch einen Blick auf die Kluft, die sich zwischen den klassischen Ansätzen der Naturfotografie und dem so genannten fotojournalistischen Stil zu vertiefen scheint. Zu den Themen, die wir zur Sprache brachten, gehörten die klassischen Natur- und Tierfotografen, die sich durch die einflussreiche Arbeit von Fotojournalisten bedroht fühlen; die Gefahr, dass Fotojournalisten den Wert der einfachen Schönheit unterschätzen, die im klassischen Ansatz festgehalten wird; die Vorliebe der Medien für dramatische Darstellungen von Tierverhalten und der Druck, der von Reisen zu Foto-Paradigmen ausgeht.
Die meisten von uns verdanken ihre Liebe zur Natur dem klassischen Ansatz, der sich auf die reine, unverfälschte Schönheit konzentriert. Dieser Ansatz ist nach wie vor unersetzlich, um sich mit der Natur zu verbinden und sich in sie einzufühlen, da er die kostbare Essenz der reinen und unschuldigen Faszination bewahrt, wie sie Kinder verspüren, die die Natur zum ersten Mal wahrnehmen. Aber die Natur ist von uns so stark beeinflusst und geschädigt worden, dass wir unbedingt tiefer blicken müssen, um die Komplexität und die Auswirkungen solcher Veränderungen in der natürlichen Ordnung zu verstehen; und das nicht nur, um diese Schäden aufzuhalten, sondern auch, um zu erkennen, dass das Schicksal der Natur und das der menschlichen Spezies untrennbar und unwiederbringlich miteinander verbunden sind.
Der Naturfoto-Journalismus sollte diese drängenden Fragen angehen, während die klassische Naturfotografie auch weiterhin visuelle Freude kreieren kann für all die unzähligen engagierten Menschen, die sich mit der Natur beschäftigen. In diesem Jahr setzte sich die Jury aus Fotografen und Redakteuren aus beiden Bereichen zusammen, und ehrlich gesagt war das manchmal nicht leicht zu bewältigen. Aber am Ende war es beruhigend zu beobachten, dass die unterschiedlichen Ansichten innerhalb der Jury nichts an unserem gemeinsamen Endziel änderten, das darin bestand, den größten Wert auf eine Vielfalt von Interpretationen der Natur aus der Sicht einiger der begabtesten Fotografen Europas zu legen.
Der Wettbewerb Europäischer Naturfotograf des Jahres ist bekannt für seine langjährige Tradition, die Natur aus einem sehr ästhetischen und figurativen Blickwinkel zu zeigen, und die diesjährigen Gewinner bilden da keine Ausnahme. Wie erwartet, zeichnen sich sowohl der allgemeine Wettbewerb als auch die mit dem Fritz-Pölking-Preis ausgezeichneten Bilder durch eine hervorragende ästhetische Qualität aus, aber auch inhaltlich haben sie uns in diesem Jahr Herausragendes gebracht. In diesem „Zeitalter der Banalität“ mit Millionen von Bildern, die minütlich gemacht werden, mögen vielleicht einige Betrachter die prämierten Bilder als zu durchdacht und zu komplex empfinden, um sie als kleine Facette des täglichen Freizeitverhaltens schnell konsumieren zu können. Es ist jedoch die präzise und harmonische Kombination von ausgefeilter Technik, einem ausgeprägten Sinn für Ästhetik und einer zum Nachdenken anregenden visuellen Erzählung, die außergewöhnliche Bilder auszeichnet.
Die diesjährigen Siegerbilder sind vereint in ihrem mutigen Engagement, die Realität dieser herausfordernden Zeiten darzustellen, mit denen wir uns konfrontiert sehen. Wir alle sollten stolz und dankbar dafür sein. In Deutschland gibt es ein perfektes Wort, um die Seele des diesjährigen Wettbewerbs zusammenzufassen: „ZEITGEIST“ – der Geist unserer Zeit.
Das Bild des Gesamtsiegers Jasper Doest hat das Potenzial, zu einer Ikone dieser Ära zu werden; ein Bild, das auf Anhieb Kraft ausstrahlt und die Sinne wachrüttelt durch die komplexen Fragen, die es aufwirft. In der Regel bleibt es ein unerreichbarer Traum für jede Jury, bei der Beurteilung eines Wettbewerbs auf ein solches Bild zu stoßen, doch dieses Mal wurde er wahr. Dieses Bild sagt uns viel: Es berührt uns, es bringt uns zum Schweigen, und doch stellt es Fragen, auf die es nur schmerzliche Antworten geben kann. In vielerlei Hinsicht offenbart es eine schreckliche Szene, und doch ist es wunderschön fotografiert: Farbe, Balance, Form, Gestalt, Komposition, Schärfe, Ausdruck, Blitz, Belichtung, Timing – alles stimmt.
Eine Ikone muss all diese Bedingungen erfüllen, und sie muss auch etwas zum Ausdruck bringen. Sie muss fesseln und Verbindung schaffen. Es ist sicher nicht das klassische Tierbild, das manche Menschen vielleicht lieber gesehen hätten, aber es bleibt ein Bild, das ein breites Publikum erreicht, und das klar und deutlich über einige sehr schwierige, aber wichtige Dinge spricht.
Das Jahrzehnt der 2020er Jahre wird ziemlich sicher den Weg bestimmen, wie sich unsere Welt für den Rest des Jahrhunderts entwickeln wird. Und unsere individuelle Verantwortung in jedem Aspekt unseres persönlichen und kollektiven Lebens hat Einfluss auf die künftige Richtung und den Charakter der globalen Gesellschaft. Deshalb ist es an der Zeit, den nackten Affen hinter der Maske zu umarmen.
Wir verfügen bereits über ein wirksames Medikament zur Heilung unserer kranken Welt, und es ist kein bewusstseinsveränderndes Mittel. Nein, es ist ein weitaus größeres Phänomen, eines, das uns die fast übernatürliche Fähigkeit verleiht, einen Bruchteil von Zeit und Raum einzufangen und uns dadurch in die Lage versetzt, ruhig zurückzublicken und darüber nachzudenken, wer wir wirklich sind und was wir tatsächlich tun: Wir nennen es Fotografie.
Im Namen der Jury,
Angel Fitor