Kommentar der Jury
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von Jim Brandenburg Die Jurierung von Fotowettbewerben ist meiner Erfahrung nach mit vielen komplexen Gefühlen verbunden. Es ist mir nicht möglich, mich von diesen Gefühlen zu lösen, wenn ich die Beiträge sehe, die von Tausenden hoffnungsvollen Fotografen eingereicht werden. Da ich schon oft auf der anderen Seite dieses Prozesses stand, kenne ich die Hoffnungen und Erwartungen, die in jedem einzelnen Bild stecken, sehr gut. Es sind kostbare Momente, die auf ihre ganz eigene Art und Weise festgehalten wurden. Es wäre sehr aufschlussreich, wenn wir in der Lage wären, uns zusammen mit dem Fotografen in den Moment der Entstehung des Bildes zu versetzen, oder vielleicht sogar in den noch stärkeren Moment, in dem man wirklich erfasst, wie gut das Ergebnis ist.
Bei einigen wenigen Gelegenheiten, wenn die Sterne mir hold waren, hatte ich persönlich das Glück, dass mir ein gutes Bild gelang, das dann auch der Jury gefiel. Aber ich erinnere mich auch noch gut an Bilder und Geschichten, die mir sehr am Herzen lagen und die dennoch abgelehnt wurden. Wenn die Sterne richtig stehen, kann sich das Leben und die berufliche Situation eines Menschen manchmal ändern – so wie bei mir. Die in den eingesandten Bildern verborgenen persönlichsten Geheimnisse sind eine Art stiller Wunsch, wenn nicht sogar ein flüsternder Appell. Ich habe das Gefühl, dass manche Bilder eine Art geheimnisvoller Energie in sich tragen, die ich manchmal sogar sehen kann. Und ich frage mich, ob andere Juroren unbewusst darauf reagieren. Ich habe sie nie gefragt. Es kann anstrengend sein, im Laufe der Jurierung Tausende von Entscheidungen zu treffen, ein Prozess, der sich bei einem großen Wettbewerb wie diesem manchmal über Wochen hinziehen kann. Wenn man in der frühen Phase der Vorjurierung alleine entscheidet, fühlt es sich sogar irgendwie noch anstrengender an. Aber ich schätze mich glücklich, dass ich in diesem Jahr beim Wettbewerb
Europäischer Naturfotograf des Jahres während der Videokonferenzen, bei denen wir Juroren aus vielen Teilen der Welt über einen Bildschirm verbunden waren, mit so umsichtigen und harmonischen Kollegen zusammenarbeiten konnte. Die Verantwortung, alleine über die
„Auserwählten“ zu entscheiden, wiegt schwerer, als wenn man mit einem talentierten Team zusammenarbeitet, das sich einig ist.
Ich denke oft darüber nach, dass ein Foto ein schwer fassbares und nicht leicht zu beschreibendes
„Gefühl“ vermittelt. Es ist nicht messbar und verändert sich mitunter; die Wirkung kann bei verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich sein. Wir alle haben das schon oft erlebt. Das macht den Bewertungsprozess noch komplexer – die Abstimmung kommt an verschiedenen Tagen mit der gleichen Auswahl an Bildern zu einem anderen Ergebnis. Das ist ganz normal. Ich habe erlebt, dass Bilder, die zu Beginn der Jurierung übergangen wurden, sich in der Endphase unwiderruflich an die Spitze setzten und andersherum. Ich habe auch das Gefühl, dass es manchen Fotografen gelingt, diese schwer fassbare Qualität eines Motivs erst zu spüren und dann zu sehen und einzufangen. Ich frage mich oft, ob diese Fähigkeit angeboren ist oder ob man sie sich früh im Leben aneignet und verfeinert, vielleicht sogar beides. Diese Frage beschäftigt uns seit Beginn der Diskussion über Kreativität und Kunst.
Für mich ist das Ablichten eines Motivs, das mir am Herzen liegt, mit einer Art stillem persönlichem Gebet gleichzusetzen, das in einem fast tranceartigen, entschlossenen Zustand entsteht. Sicherlich ist Gebet ein passendes Wort, wenn es darum geht, die Gefühle zu beschreiben, die manche von uns gegenüber der Natur empfinden. Unsere Bilder werden zu
„Opfergaben“ – wie Gebetsfahnen. Ich hoffe, dass ihre Existenz irgendjemanden irgendwo in der Welt beeinflusst oder inspiriert. Tibetische Gebetsfahnen werden verwendet, um Mitgefühl, Kraft und Weisheit zu fördern. Die Fahnen tragen keine Gebete an die Götter – das ist ein weit verbreiteter Irrtum. Vielmehr sollen die
„Gebete“ vom Wind verweht werden, um den guten Willen und das Mitgefühl in den alles durchdringenden Raum zu tragen. Inspiration …
Von
Angel Fitor stammt das inspirierte, wie aus einer anderen Welt stammende Siegerfoto des diesjährigen Wettbewerbs –
Ballett der Medusen. Wir sind uns nie begegnet und haben auch nie über seine Erfahrungen bei der Erstellung des Bildes gesprochen, aber ich habe das starke Gefühl, dass er sich dabei in dieser fast gebetsähnlichen Welt befand. Sein kraftvolles Bild hat uns Jurymitglieder auf vielen Ebenen stark angesprochen, und nach der ökologischen Katastrophe, die nur kurze Zeit später am Entstehungsort – der spanischen Lagune
Mar Menor – stattfand, kann es auch für die massiven Umweltprobleme dieser Region sprechen. Vielleicht kann dieses preisgekrönte Bild auf einer größeren Bühne ein Sprachrohr werden und die Art von Veränderung bewirken, die die meisten von uns anstreben.
Im Namen der Jury, Jim Brandenburg